Die Anziehungskraft von F&E für Wissenschafts- und Ingenieur-Gründer

Wissenschaftler und Ingenieure, die ein Unternehmen gründen, haben einen großen Vorteil: Sie verstehen ihr Produkt, die Technologie und die zugrundeliegende Forschung in der Tiefe.
Doch was anfangs ein enormer Pluspunkt ist, kann später zu einer Herausforderung werden, wenn Gründer mit einem Forschungs- oder Ingenieurhintergrund (F&E-Gründer) sich nicht aus der Anziehungskraft von Forschung und Entwicklung (F&E) lösen können.
Gerade in den ersten Jahren eines Startups trägt jeder Gründer mehrere Hüte. Man übernimmt Aufgaben, die einem vorher fremd waren oder die man vielleicht sogar nervtötend findet. Aber für F&E-Gründer zieht es einen immer wieder zu dem zurück, was man liebt: am Produkt feilen, den nächsten Entwicklungsmeilenstein erreichen oder neue Features designen.
Die Faszination für Komplexität und der Antrieb, innovative Lösungen zu entwickeln, sind wunderbare Eigenschaften. Doch wie bei allem kommt es auf die Dosis an. Eine Überdosis F&E kann nicht nur den Gründer, sondern auch das Team und das gesamte Unternehmen ausbremsen.
Ich spreche aus eigener Erfahrung: Viele der im Folgenden beschriebenen Symptome habe ich selbst erlebt. Mit etwas mehr Abstand und Erfahrung wären einige Dinge einfacher, schneller und besser gelaufen.
Symptome
Wie erkennt man, ob man sich als F&E-Gründer zu sehr im “Rabbit Hole” der Forschung und Entwicklung verliert? Hier sind einige ausführlichere Hinweise darauf, dass die Balance zwischen F&E und anderen Unternehmensbereichen aus dem Gleichgewicht geraten ist:
Lange Diskussionen im Gründerteam ohne klares Ergebnis: Wenn Diskussionen zu produktbezogenen Themen, wie der Entwicklung des nächsten Features oder der langfristigen Strategie, regelmäßig ausarten und keine klaren Entscheidungen getroffen werden, ist das ein Anzeichen dafür, dass die Teammitglieder zu stark in ihrer eigenen Sichtweise auf die F&E vertieft sind. Besonders problematisch ist es, wenn diese Diskussionen dominieren und andere wichtige Themen, wie Marktstrategie oder Kundenfeedback, in den Hintergrund treten. Solche Gespräche enden oft ohne Fortschritt und hinterlassen Frustration im Team.
Perfektionistische Planung der fernen Zukunft: Viele F&E-Gründer neigen dazu, technische Herausforderungen oder Produktideen bis ins kleinste Detail auszuarbeiten – auch wenn diese erst in einem oder zwei Jahren umsetzbar wären. Diese Planungstiefe kostet nicht nur wertvolle Zeit, sondern ist auch ineffizient, da aktuelle Prioritäten und Ressourcen vernachlässigt werden. Statt kurzfristige Engpässe zu lösen, wird Energie in hypothetische Probleme investiert, die zu diesem Zeitpunkt noch irrelevant sind.
Fokussierung auf Edge-Cases und Was-wäre-wenn-Szenarien: Die Antizipation möglicher Herausforderungen und Risiken ist wichtig, aber eine übermäßige Fixierung auf seltene oder unwahrscheinliche Szenarien lenkt die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ab. Wenn in F&E-Meetings mehr Zeit auf Edge-Cases verwendet wird, als auf die Entwicklung robuster Lösungen für die Hauptanwendungsfälle oder das wahrscheinlichste Szenario, zeigt das oft eine mangelnde Priorisierung oder eine unzureichende Abstimmung im Team.
Innerliche oder nach außen sichtbare Überheblichkeit: Wenn (einzelne) F&E-Gründer glauben, dass nur sie das Produkt oder die zugrunde liegende Technologie wirklich verstehen, entsteht eine gefährliche Dynamik. Dieses Verhalten äußert sich oft in einer Abwertung der Meinungen anderer Teammitglieder oder in dominanten Verhaltensweisen bei Meetings. Noch problematischer wird es, wenn diese Überheblichkeit offen gezeigt wird, da sie das Vertrauen und die Zusammenarbeit im Team stark beschädigen kann.
Heilige Kühe (Technologie-Fanatismus): Ein oder mehrere Gründer könnten einer bestimmten Technologie, Methode oder einem Lösungsansatz so stark verhaftet sein, dass keine Alternativen zugelassen werden. Solche „heiligen Kühe“ verhindern nicht nur Innovation, sondern führen dazu, dass potenziell bessere oder kosteneffizientere Optionen ignoriert werden. Aber Vorsicht! Technologie-Fanatismus kann auch darauf hinweisen, dass zu wenig in F&E investiert wird: Eine Fixierung kann auch darauf hinweisen, dass sich nicht ausreichend mit konkurrierenden Technologien auseinandergesetzt wurde.
Micromanagement: Gründer, die glauben, jeden Aspekt der Produktentwicklung selbst überwachen zu müssen, handeln oft aus Angst vor Fehlern oder Qualitätsverlust. Dieses Verhalten führt jedoch nicht nur zur Überlastung der Gründer selbst, sondern auch zu Frustration im Team. Wenn bei Meetings der Redeanteil eines einzelnen Gründers unverhältnismäßig hoch, er oder sie zu jedem Thema eine Antwort hat, aber keine Fragen stellt und das Team zurückhaltend oder unsicher wirkt, deutet das auf eine ungesunde Kontrolle hin.
Rückzug in den Elfenbeinturm: Manche F&E-Gründer ziehen sich zunehmend aus der Kommunikation mit Kunden, Investoren oder anderen externen Partnern zurück, weil sie diese als Zeitverschwendung empfinden. Dieser Rückzug aus der „Außenwelt“ kann jedoch dazu führen, dass wichtige Markttrends oder Kundenbedürfnisse übersehen werden.
Beratungsresistenz: Wenn F&E-Gründer externe Meinungen konsequent ablehnen oder sich weigern, Berater oder Mentoren hinzuzuziehen, zeigt das eine ungesunde Fixierung auf die eigene Expertise. Während es wichtig ist, ein klares Bild von den eigenen Herausforderungen zu haben, kann die völlige Ablehnung externer Perspektiven Innovationen blockieren und das Unternehmen isolieren.
Was kann man gegen eine ungesunde Anziehungskraft von F&E machen?
Grundsätzlich sollte sich zunächst jeder F&E-Gründer darüber im Klaren sein, dass es auch zu viel F&E geben kann und dass man sich, als Gründer mit natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Hintergrund, sich auch unwissentlich im F&E-“Rabbit-Hole” verlieren kann. Daher ist mein erster Rat an Euch, liebe F&E-Kollegen: Achtet selbst auf die Symptome! Und zweitens: Nehmt Eure Gründer-Kollegen ernst, wenn Sie Euch ein oder mehrere dieser Symptome attestieren.
Weiterhin gibt es ein paar Punkte, wie man persönlich einer solchen großen Anziehungskraft entgegenwirken kann:
Zeit für „Öffentlichkeitsarbeit“ blocken: F&E-Gründer sollten bewusst Zeit dafür einplanen, außerhalb des eigenen F&E-Bereichs sichtbar zu sein. Das bedeutet nicht, dass sie ein Social-Media-Star werden müssen, aber die Teilnahme an Investorenmeetings, Pitches vor Kunden oder Netzwerkarbeit sind essenziell. Auch wenn eine Zeitlang keine solche Meetings anstehen, können Auch die Vorbereitung von Fachvorträgen, die Pflege eines F&E Newsletters oder das Schreiben eines White Papers können dabei helfen, den Blick von internen Herausforderungen auf die Außenwelt zu richten. Diese Zeitblockade sollte nicht verhandelbar sein, auch wenn viele F&E-ToDos auf dem Zettel stehen. Sie dient dazu, regelmäßig aus der F&E-Blase herauszukommen und sich mit der „Außenwelt“ auseinanderzusetzen.
Simplicity first – Keep it simple, stupid: Viele F&E-Gründer neigen dazu, alle Aspekte des Produkts und der Strategie in übertriebener Tiefe zu erklären. Doch die Realität ist, dass Kunden, Investoren und Partner oft mit einer vereinfachten Darstellung zufrieden sind und diese sogar oft mehr schätzen als Detailtiefe, Sie zeigt, dass sich F&E-Gründer auf das Wesentliche beschränken können. Die eigenen Gedanken bewusst „für Dumme“ aufzubereiten, hilft die Botschaft klarer zu kommunizieren, das Unternehmen greifbarer zu machen und schafft nach innen mehr Fokus.
Auf lange Sicht nur High-Level planen: Es ist leicht, sich in hypothetischen Problemen zu verlieren oder die perfekte Lösung für Herausforderungen zu suchen, die erst in Monaten oder Jahren auftreten könnten. Stattdessen sollten F&E-Gründer lernen, nur das detailliert zu planen, was in den nächsten Monaten tatsächlich relevant ist. Zukünftige Probleme sollten klar benannt, dokumentiert und dann beiseitegelegt werden. Gute F&E-Gründer haben das Vertrauen in sich selbst, zukünftige Probleme auch in Zukunft zu lösen und sich in der Gegenwart nicht von ihnen blockieren zu lassen.
Weiterhin gibt es einige Maßnahmen, die man als Team ergreifen kann, wenn ein zu starker F&E-Fokus festgestellt wird:
F&E-Breakout-Sessions organisieren:
Es hört sich zunächst paradox an, wenn ich schreibe: Wenn eine zu große Anziehungskraft von F&E festgestellt wird, sollte eine fokussierte F&E Session im Gründerteam (und ggf. mit weiteren Teammitgliedern) stattfinden. Es geht darum, diese Anziehungskraft richtig zu kanalisieren und wie bei einem Fly-By-Manöver aus der F&E-Falle herauszubeschleunigen. Eine solche Session dient nicht nur dazu, eine konkrete Produkt-Roadmap zu erstellen, sondern vielmehr dazu, das Team (wieder) auf eine gemeinsame Arbeitsweise einzuschwören. Dabei sollten klare Erwartungen formuliert werden, etwa zur Zeitverwendung jedes Teammitglieds zwischen F&E, Management und Öffentlichkeitsarbeit. Auch die Verteilung von Entscheidungskompetenzen und die Festlegung der F&E-Kultur können Teil solcher Breakout-Sessions sein, um die Zusammenarbeit nachhaltig zu verbessern. Wenn dieser Rahmen gesteckt ist, fällt die eigentliche F&E Arbeit während der Session viel leichter und es werden schneller Entscheidungen getroffen, mit denen alle glücklich sind.
Entscheidungsgewalt klar verteilen: Besonders in der frühen Phase eines Startups wird die Produktentwicklung oft als Gemeinschaftsaufgabe angesehen. Doch um endlose Diskussionen zu vermeiden, sollten klare Verantwortlichkeiten definiert werden. Wer hat bei welchem Thema die Expertise oder das stärkste Interesse? Diese Person sollte letztlich die Entscheidungen treffen und die Verantwortung tragen. In einem guten Gründerteam sollte die Praxis sein, bei F&E-Diskussionen zu sagen: “Lieber Mitgründer, Du hast bei diesem Aspekt die meiste Ahnung oder dieser Aspekt ist dir extrem wichtig, lass uns alle Meinungen hören, diskutieren, aber schlussendlich triffst Du eine Entscheidung und trägst die Verantwortung.”
Vertrauen gegenüber Gründerkollegen stärken: Vertrauen ist die Basis jeder erfolgreichen Zusammenarbeit. F&E-Gründer müssen lernen, darauf zu vertrauen, dass ihre Mitgründer die richtigen Entscheidungen treffen können – auch wenn sie selbst eine andere Meinung haben. Selbst wenn sich die eigene Meinung im Nachhinein als richtig erweist und Fehler passieren: Der gegenseitige Vertrauensgewinn durch gegenseitiges Empowerment, das Eingestehen von Fehlern und das gemeinsame Wieder-Aufstehen kann einen größeren positiven Effekt haben, als wenn die Entscheidung beim ersten Mal perfekt und richtig getroffen werden.
Das Team empowern: F&E-Gründer sollten Stück für Stück Verantwortung für die Produktentwicklung an ihr Team abgeben und sich mehr und mehr auf Management, Stakeholder-Kommunikation, F&E-Kultur und Öffentlichkeitsarbeit einlassen. Das bedeutet, die Kontrolle loszulassen und sich darauf einzulassen, dass Dinge manchmal anders laufen, als man es selbst gemacht hätte. Auch wenn das zunächst zu langsameren Prozessen führen kann, wächst das Team mit dieser Verantwortung. Langfristig wird es dadurch selbstständiger und effizienter, während die Gründer sich auf andere Aufgaben konzentrieren können.
Externe Meinungen zulassen: Auch wenn F&E-Gründer oft Experten in ihrem Fachgebiet sind, gibt es immer jemanden, der in einem spezifischen Bereich mehr Erfahrung oder eine andere Perspektive hat. Externe Meinungen – sei es von Beratern, Mentoren oder einem Advisory Board – sollten als wertvolle Ergänzung gesehen werden. Ein gut ausgewähltes Advisory Board, das nicht nur lobt, sondern auch kritisch hinterfragt, kann helfen, blinde Flecken aufzudecken und bessere Entscheidungen zu treffen.
Fazit
Eine Überdosis F&E kann ein Startup ins Stocken bringen, wenn Gründer mit Forschungs- oder Ingenieurhintergrund die Balance zwischen Entwicklung, Management und Marktbedürfnissen nicht finden. Die gute Nachricht: Mit Bewusstsein, Struktur und Offenheit lassen sich diese Herausforderungen meistern.
F&E ist eine zentrale Stärke, aber sie darf nicht zum Selbstzweck werden. Ein gesundes Gleichgewicht zwischen Forschung, Management und Außenkommunikation ist entscheidend – für den Erfolg des Startups und die persönliche Entwicklung als Gründer.
Indem ihr auf Symptome achtet, Entscheidungen im Team klar verteilt und euch regelmäßig aus der F&E-Welt herauszieht, schafft ihr die Grundlage für nachhaltiges Wachstum – und für ein erfüllteres Leben als Gründer.